Zeigt ein Kind in der Schule Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen, sind viele Eltern erstmal verunsichert: Ist das noch normal oder braucht mein Kind gezielte Unterstützung? In solchen Situationen hagelt es oft gut gemeinte Ratschläge: „Das verwächst sich!“, „Einfach mehr üben!“, „Da hilft eine App!“, eine wirkliche Hilfe bieten diese Tipps selten.
Tatsächlich sind rund um Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) und Rechenschwäche viele Mythen im Umlauf. Auch pädagogisches Fachpersonal ist in diesem Bereich nicht immer ausreichend geschult – und so kann es passieren, dass Probleme übersehen oder falsch eingeordnet werden. Hier ist es wichtig, dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen und sich selbst weiter zu informieren.
In diesem Beitrag nehme ich einige der häufigsten Mythen rund um LRS und Rechenschwäche unter die Lupe und ordne sie fachlich ein: Was sollten Eltern lieber hinterfragen und was stimmt wirklich?

Wer schreibt hier? Ich bin Sabine Landua, Lerntherapeutin und Lerncoach in Niedersachsen. In meiner Praxis Wortsalat & Zahlenmix arbeite ich mit Schülern und Lernern bis ins Erwachsenenalter daran, das Lesen, Schreiben und Rechnen, aber auch das Lernen im Allgemeinen besser zu meistern. Seit 2022 bin ich Mitglied im Lerntherapeutennetzwerk. Gemeinsam arbeiten wir daran, Lerntherapie bekannter zu machen und über Lernstörungen aufzuklären.
Mythos 1: Einfach abwarten, das verwächst sich schon noch
Diesen Satz hören Eltern sehr häufig, ihr Bauchgefühl sagt aber oft etwas anderes. Fakt ist, LRS und Rechenschwäche sind keine vorübergehenden Entwicklungsverzögerungen, sondern anerkannte Lernstörungen. Die Ursachen sind sehr vielfältig, häufig können aber schon vor Schulbeginn Auffälligkeiten in bestimmten Bereichen festgestellt werden. Ohne gezielte Unterstützung bleiben diese Schwierigkeiten in der Regel bestehen bzw. werden größer, je mehr Schulstoff hinzukommt. Kinder machen so bereits zu Schulbeginn die Erfahrung, dass sich nicht mehr mitkommen. Dies hat Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, die Motivation und natürlich den schulischen Erfolg. Statt abzuwarten, „ob es sich nicht doch noch auswächst“ ist dagegen frühzeitiges Handeln entscheidend, um den Teufelskreis zu durchbrechen und eine stabile Basis für das Weiterlernen zu schaffen.
Mythos 2: Lerntherapie ist sowas wie Nachhilfe
Vielen Menschen ist nicht bekannt, was Lerntherapeuten machen und was sich hinter dem Begriff „Lerntherapie“ verbirgt. Oft höre ich die Aussage „Du machst doch sowas wie Nachhilfe, oder?“ Und dann beginne ich zu erklären… Das ist auch einer der Gründe, warum wir mit dem Lerntherapeutennetzwerk bloggen: Wir möchten aufklären!
Unser Ziel ist es, bis 2033 ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Lerntherapie eine individuelle, nachhaltige und stärkende Begleitung bietet – für alle, die beim Lernen Unterstützung brauchen.
Lerntherapie geht damit weit über Nachhilfe hinaus. Während Nachhilfe meist den aktuellen Schulstoff vertieft, setzt Lerntherapie an den grundlegenden Ursachen der Lernprobleme an. Wir arbeiten an den fachlichen Grundlagen und daran, eine stabile Basis für das weitere Lernen zu schaffen. Lerntherapie beinhaltet aber auch immer den Persönlichkeitsbereich, d.h. gemeinsam arbeiten wir an der Stärkung des Selbstwertgefühls und daran, wie mit der Lernstörung im Alltag umgegangen werden kann. Lerntherapie verbindet damit pädagogisches Fachwissen mit psychologischer Unterstützung, arbeitet mit speziellen Methoden und bezieht auch emotionale und soziale Aspekte mit ein.
Wenn du mehr dazu wissen möchtest, schau dir doch gerne auch unser Video Was ist Lerntherapie – kurz erklärt an.
Mythos 3: Kinder mit LRS oder Rechenschwäche sind faul und müssen einfach mehr üben
Letzte Woche kam eine Schülerin (4. Klasse Dyskalkulie) mit über und über beschriebenen Handrücken in die Lerntherapie. Sie erklärte mir, dass sie sich auf der einen Hand die Aufgaben des 1×6 und auf der anderen die Aufgaben des 1×8 geschrieben hätte. So könnte sie immer zwischendurch üben. In der Pause hätte dann ihre Freundin ihre Hände gehalten und sie abgefragt.
Ich glaube, das reicht schon mal als Beweis, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten keinesfalls faul sind. Vielmehr stoßen sie schneller an ihre Grenzen. Ihre Schwierigkeiten beruhen nicht auf mangelndem Willen, sondern auf spezifischen Verarbeitungsproblemen und fehlenden Basiskompetenzen. Sie müssen daher viel mehr Zeit in das Üben und das Erledigen der Hausaufgaben investieren als andere Kinder. Die Lerntherapie soll sie dabei unterstützen, passende Strategien zu entwickeln, um endlich Erfolge zu erleben.
Mythos 4: Die Eltern sind schuld – die Lehrkräfte sind schuld
LRS und Rechenschwäche entstehen durch eine Kombination genetischer, neurobiologischer und umweltbedingter Faktoren. Das heißt, dass Lernstörungen familiär gehäuft vorkommen können, weil eine gewisse Veranlagung vererbt wurde. Vielleicht sind die Eltern oder Großeltern auch betroffen, damals wurde es aber noch nicht als Lernstörung erkannt? Auch die Lernumgebung trägt wesentlich dazu bei. Ein schulisches Umfeld, das optimale individuelle Lernbedingungen bietet, kann viele Kinder auffangen. Spielen für das Kind aber mehrere ungünstige Faktoren zusammen, kann es zur Entwicklung einer Lernstörung kommen.
Die Eltern trage daran keine Schuld. Sie können aber eine wichtige Rolle in der Unterstützung ihres Kindes spielen, indem sie z.B. auf ihr Bauchgefühl vertrauen, durch eine offene Haltung, Geduld und die Bereitschaft, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Lehrkräfte tragen ebenso wenig Schuld an einer Lernstörung (und das Kind selbst natürlich auch nicht!). Sie können aber durch die Gestaltung des Unterrichts dazu beitragen, Kindern eine optimale Lernumgebung zu schaffen. Darüber hinaus sind sie Ansprechpartner für Eltern, können frühzeitig auf Auffälligkeiten hinweisen und weitere Unterstützung anraten.
Mythos 5: Wenn die Schule nichts sagt, ist alles in Ordnung
Schulen sind heute leider häufig nicht mit ausreichend Ressourcen ausgestattet. Das fängt damit an, dass nicht ausreichend Lehrkräfte an den Schulen sind und teilweise Klassen über Wochen zusammengelegt werden, Stunden ausfallen oder von Vertretungslehrkräften übernommen werden, die fachlich nicht immer in diesen Bereichen ausgebildet sind.
So kommt es dazu, dass die Entwicklung einzelner Kinder nicht immer kontinuierlich betrachtet werden kann. LRS und Rechenschwäche werden so oft erst spät erkannt. Besonders bei Kindern, die unauffällig sind, sich mündlich gut ausdrücken oder viel kompensieren können. Manchmal fällt erst in höheren Schuljahren auf, dass etwas nicht verstanden wurde, was die Schülerinnen und Schüler bis dahin aber mit Auswendiglernen ausgleichen konnten.
Wer als Eltern oder Lehrkraft den Verdacht auf eine Lernstörung hat, sollte aktiv werden. Eine differenzierte Diagnostik und das Gespräch mit Fachpersonen können Klarheit bringen. Lerntherapeuten können eine erste Anlaufstelle sein. Falls du auf der Suche nach einem geeigneten Lerntherapeuten bist, schau gerne einmal auf unserer Übersichtsseite vorbei. Hier findest du Lerntherapeutinnen aus ganz Deutschland und Österreich, die dich gerne unterstützen.
Mythos 6: Lerntherapie bringt nichts – man muss sich einfach nur durchbeißen
Viele Kinder mit LRS oder Rechenschwäche haben schon gelernt, dass sie sich „durchbeißen“ müssen – Tag für Tag, Woche für Woche. Doch ständiger Druck führt selten zu echtem Lernerfolg. Vor allem dann, wenn Erfolge ausbleiben, führen die Schwierigkeiten vermehrt zu negativen Selbstzuschreibungen. Diese setzen eine Abwärtsspirale in Gang, die sogar bis zur Schulverweigerung führen kann.
In der Lerntherapie geht es darum, dass Kinder und Jugendliche verstehen, wo ihre Schwierigkeiten liegen. Sie erfahren, dass diese nichts mit Versagen oder mangelndem Üben zu tun haben und erhalten Unterstützung in der Aufarbeitung grundlegender Fertigkeiten. Sie lernen Strategien kennen, wie sie in ihrem eigenen Tempo lernen können. So entsteht nachhaltiges Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Unsere Praxiserfahrungen (und auch viele Studien) zeigen: Lerntherapie wirkt, wenn sie individuell zugeschnitten ist, regelmäßig stattfindet und in einer vertrauensvollen Beziehung zwischen der Lerntherapeutin und dem Kind oder Jugendlichen stattfindet. Es geht nicht um „schneller – höher – weiter“, sondern um nachhaltiges, sicheres Lernen mit Freude.
Mythos 7: Spätestens in der weiterführenden Schule ist es zu spät
„Kann man da jetzt noch was machen?“, höre ich oft, wenn Eltern von Jugendlichen bei mir anrufen, um sich beraten zu lassen. Lern- und Entwicklungsprozesse hören aber ja nicht mit der Grundschule auf. Im Gegenteil: Viele Jugendliche entwickeln erst in höheren Klassen ein Bewusstsein dafür, wo genau ihre Schwierigkeiten liegen. Fakt ist: Es ist nie zu spät, die eigenen Lernwege zu verändern.
Lerntherapie setzt immer an den individuellen Schwierigkeiten an und da ist es egal, in welchem Alter die Lerntherapie beginnt. Natürlich ist es günstig, Lernschwierigkeiten so früh wie möglich anzugehen, um den weiteren Schulerfolg zu gewährleisten. Jugendliche profitieren aber häufig besonders, weil sie bewusster wahrnehmen, was sie belastet und sich darüber freuen, endlich Methoden an die Hand zu bekommen, die wirklich zu ihnen passen. Auch Erwachsene, die jahrelang mit einer unentdeckten LRS oder Rechenschwäche gelebt haben, können durch eine gezielte Förderung neue Perspektiven gewinnen und alte Blockaden lösen.
Sehr sehenswert ist dazu die ZDF-Doku Buchstäblich leben, die den deutschen Fernsehpreis gewonnen hat. In der Serie wurden Menschen begleitet, die sich im Erwachsenenalter ihren Lernschwierigkeiten gestellt und eine Lerntherapie begonnen haben. Unsere Netzwerk-Kollegin Nicole Gerbatsch war übrigens als Lerntherapeutin unterstützend dabei. Bei ihr findest du auch den Blogartikel Lerntherapie für Erwachsene – ist das noch sinnvoll?
Was bleibt?
Lerntherapie ist eine wirksame, ganzheitliche Unterstützung bei LRS und Rechenschwäche und kann Kinder (und Familien) entlasten, stärken und langfristig begleiten. Lerntherapie wird als Unterstützungsmaßnahme zunehmend bekannter. Trotzdem sind weiterhin viele Mythen im Umlauf. Ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag dazu beitragen konnte, über häufige Mythen aufzuklären.
Weitere Blogartikel über Mythen bei LRS und Rechenschwäche findest du hier:
- Es ist zum Haare raufen – 4 Mythen rund um Lernstörungen von Ute Temel
- Mythen und Fakten in der Lerntherapie und 8 Mythen zum Thema Rechenschwäche – so unterstützt du Schüler richtig von Susanne Seyfried
- 5 Mythen bei LRS und Rechenschwäche – einmal schreddern bitte! von Sabine Landua
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