In deutschen Klassenzimmern sind etwa zwei bis drei Kinder pro Klasse von einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) betroffen. Studien zeigen, dass ungefähr 3 bis 8% aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland mit dieser Herausforderung konfrontiert sind. Um diesen Kindern faire Bildungschancen zu ermöglichen, hat Bayern klare Regelungen für Nachteilsausgleich und Notenschutz geschaffen
Nachteilsausgleich und Notenschutz in Bayern
Seit dem Schuljahr 2016/17 bietet das bayerische Schulsystem ein differenziertes Unterstützungssystem, das von individueller Förderung im Unterricht bis hin zu spezifischen Anpassungen bei Leistungserhebungen reicht. Ziel ist es, die Fähigkeiten und das Potenzial der betroffenen Schüler trotz ihrer Beeinträchtigungen voll zur Entfaltung zu bringen.
Im Folgenden erfährst du mehr über die rechtlichen Grundlagen, Unterstützungsmöglichkeiten und den Antragsprozess für Nachteilsausgleich und Notenschutz in Bayern.
Wichtig zu beachten ist, dass diese Regelungen speziell für LRS gelten; für Dyskalkulie sind leider keine offiziellen Maßnahmen vorgesehen.
Ein Gastbeitrag von Michaela Zieglmeier
Rechtliche Vorgaben
Die rechtlichen Grundlagen für Nachteilsausgleich und Notenschutz sind in der Bayerischen Schulordnung (BaySchO) und im Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) geregelt. Ziel ist es, den betroffenen Schülerinnen und Schülern eine Chancengleichheit zu gewährleisten, ohne das fachliche Anforderungsniveau zu senken. Die Maßnahmen lassen sich in drei Kategorien unterteilen: individuelle Unterstützung im Unterricht, Nachteilsausgleich und Notenschutz.
- § 32 BaySchO: Individuelle Unterstützung im Unterricht
- § 33 BaySchO: Nachteilsausgleich bei Leistungserhebungen
- § 34 BaySchO: Notenschutz bei Leistungserhebungen
- Art. 52 Abs. 5 BayEUG: Voraussetzungen für Nachteilsausgleich und Notenschutz
In Bayern gibt es keine speziellen Regelungen für Dyskalkulie. Die folgenden Informationen beziehen sich daher ausschließlich auf Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS).
Individuelle Unterstützung im Unterricht (§ 32 BaySchO)
Ein wichtiges Ziel im Unterricht ist es, alle Schülerinnen und Schüler individuell zu unterstützen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, den Unterricht an die Bedürfnisse von Kindern mit Legasthenie anzupassen – ohne die Bewertung von Tests und Arbeiten zu verändern.
Folgende Maßnahmen sind möglich:
- Bei Lesestörungen:
- Auswahl geeigneter Schriftarten und größerer Zeilenabstand
- Zusätzliches Anschauungsmaterial
- Gewährung von Pausen
- Didaktisch-methodische Unterstützung (z. B. farbige Silbenmarkierung, Übungen zur Lautanalyse)
- Individuelle Erläuterungen von Arbeitsanweisungen
- Bei Rechtschreibstörungen:
- Nutzung spezieller Arbeitsmaterialien wie Computer oder spezielle Stifte
- Übungen zum systematischen Abhören von Wörtern und zur Wortgliederung
- Differenzierte Hausaufgaben
Nachteilsausgleich bei Leistungserhebungen (§ 33 BaySchO)
Ein Nachteilsausgleich passt die Prüfungsbedingungen an, um die Beeinträchtigung auszugleichen, ohne das fachliche Anforderungsniveau zu senken.
Rechtliche Grundlage: Art. 52 Abs. 5 BayEUG
Mögliche Maßnahmen:
- Bei Lesestörungen:
- Verlängerung der Bearbeitungszeit
- Vorlesen von Aufgabenstellungen
- Strukturierungshilfen (z. B. Vorlegen schriftlicher Aufgaben in Abschnitten)
- Nutzung spezieller Arbeitsmittel wie Leselineale oder Vergrößerungsvorrichtungen
- Bei Rechtschreibstörungen:
- Verlängerung der Bearbeitungszeit
- Anpassung der Leistungsfeststellungen (z. B. mündliche durch schriftliche Prüfungen ersetzen)
- Einsatz von Computern oder Tablets
Notenschutz bei Leistungserhebungen (§ 34 BaySchO)
Der Notenschutz greift, wenn die Beeinträchtigung so schwerwiegend ist, dass die Erbringung einer Leistung in bestimmten Bereichen nicht bewertet werden kann. Diese Maßnahmen werden individuell an den Schüler und die jeweilige Schulart angepasst.
Voraussetzung: Eine lang andauernde, erhebliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, das vorhandene Leistungsvermögen darzustellen (Art. 52 Abs. 5 BayEUG).
Mögliche Maßnahmen:
- Bei Lesestörungen:
- Verzicht auf die Bewertung des Vorlesens in Deutsch und Fremdsprachen
- Bei Rechtschreibstörungen:
- Verzicht auf die Bewertung der Rechtschreibleistung
Hinweis: Der Notenschutz wird im Zeugnis vermerkt, um Transparenz zu schaffen.
Ablauf der Antragsstellung auf Nachteilsausgleich und Notenschutz
Ein Antrag auf Nachteilsausgleich oder Notenschutz stellt eine wichtige Unterstützungsmöglichkeit für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Herausforderungen, wie einer Lese-Rechtschreib-Störung, dar. In Bayern regelt die Bayerische Schulordnung (BaySchO) die Voraussetzungen und Umsetzung solcher Maßnahmen.
Wer kann einen Antrag stellen?
Eltern oder Erziehungsberechtigte können den Antrag auf Nachteilsausgleich oder Notenschutz bei der Schulleitung stellen. Dafür wird ein fachliches Gutachten benötigt, zum Beispiel von einer Schulpsychologin, einem Schulpsychologen oder einer Fachärztin bzw. einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dieses Gutachten zeigt, dass das Kind über einen längeren Zeitraum deutliche Schwierigkeiten hat.
Die folgende Grafik erklärt den Antragsprozess Schritt für Schritt.
Wie läuft der Antragsprozess ab?
Der Antrag läuft in verschiedenen Schritten ab, auf die hier genauer eingegangen wird:
- Diagnose: Eine qualifizierte Feststellung, dass das Kind unter einer Lese-Rechtschreib-Störung oder einer anderen relevanten Beeinträchtigung leidet.
- Antragsstellung: Die Eltern beantragen bei der Schulleitung die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und/oder Notenschutzes. Hierbei hilft ein schriftlicher Nachweis der Diagnose.
- Entscheidung: Die Schulleitung prüft den Antrag unter Berücksichtigung der spezifischen Beeinträchtigungen des Kindes sowie der schulischen Anforderungen.
- Maßnahmenplan: Nach Genehmigung werden die individuellen Maßnahmen schriftlich festgehalten und regelmäßig überprüft.
Praxisbeispiele für Nachteilsausgleich und Notenschutz bei Legasthenie in Bayern
Die Umsetzung von Nachteilsausgleich und Notenschutz sollte individuell angepasst werden, damit sie den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler bestmöglich gerecht wird. Im Folgenden zeigen praxisnahe Beispiele, welche Möglichkeiten es gibt und wie sie im Schulalltag angewendet werden können.
Fallbeispiel Sebastian LRS
Sebastian zeigte bereits im Grundschulalter erhebliche Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens. Nach einer Diagnose durch eine Schulpsychologin und einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde eine Lese-Rechtschreib-Störung festgestellt. Folgende Maßnahmen wurden ergriffen:
Individuelle Unterstützung
- Vergrößerung der Texte auf Arbeitsblättern (Schriftgröße 14 pt, 1½-zeilig)
- Didaktisch-methodische Maßnahmen, wie z. B. farbige Kennzeichnung von Silben
- Individuelle Erläuterungen der Arbeitsanweisungen
- Differenzierte Hausaufgaben
Nachteilsausgleich
- Zeitzuschlag von bis zu 20 % bei Leistungserhebungen in Deutsch und HSU
- Zeitzuschlag von maximal 10 % im Fach Mathematik
- Strukturierungshilfen
- Vorlesen von Aufgabenstellungen und zugehörigen Texten
Notenschutz
- Verzicht auf die Bewertung der Rechtschreibleistung in allen Fächern
- Verzicht auf die Bewertung des Vorlesens im Fach Deutsch
Sebastian nimmt zusätzlich an einer außerschulischen Legasthenie-Therapie teil, die durch das Jugendamt finanziert wird. Beim Wechsel auf eine weiterführende Schule werden die Maßnahmen individuell neu bewertet.
Praxisbeispiel LRS, individuelle Lösungen
- Vergrößerte Prüfungsunterlagen: Prüfungen werden auf DINA-3-Format angepasst, um die Lesbarkeit zu erleichtern.
- Ruhige Prüfungsumgebung: Prüfungen können in einem separaten Raum geschrieben werden, oft mit unterstützender Begleitung.
- Auditives Hilfsmittel: Der „Tellimero“-Stift kann genutzt werden, um Aufgabenstellungen oder Inhalte vorzulesen.
- Zusätzliche Unterstützung bei Dyskalkulie: Spezielle Materialien wie Rechenblätter und Visualisierungshilfen werden bereitgestellt.
- Optimiertes Zeitmanagement: Mithilfe spezieller Uhren oder individuell gewährter Zeitpuffer können die Schüler ihre Prüfungszeit besser einteilen.
- Leseunterstützung: Farbig markierte Silben oder Hilfsmittel wie Lesekrokodile helfen beim Lesen und Verstehen von Texten.
Notenschutz
- Rechtschreibfehler werden nicht bewertet.
- Im Fach Deutsch wird das Vorlesen ab der 5. Klasse nicht benotet.
- In Fremdsprachen werden lautgetreue Schreibweisen akzeptiert.
Praxisbeispiel meiner Kollegin Barbara Wenning: Zwei Schüler mit Legasthenie
In einer Klasse wurden zwei Schüler mit Legasthenie unterstützt. Die individuellen Ansätze verdeutlichen, wie flexibel der Nachteilsausgleich gestaltet werden kann:
- Älterer Schüler: Er erhielt die Lesetexte zerschnitten und in größerem Format kopiert, was ihm beim Lesen half.
- Jüngerer Schüler: Er entschied sich für einen Zeitzuschlag bei Prüfungen. Anfangs nutzte er diesen nicht, da ihm Strategien zur Selbstkorrektur fehlten und er sich genierte. In der Therapie wurde daher gezielt an seiner Selbstkorrektur für den Umgang mit der zusätzlichen Zeit gearbeitet.
Notenschutz: Bei beiden Schülern wurden die Rechtschreibfehler nicht benotet.
Praxisbeispiel Dyskalkulie
In Bayern gibt es keine festen Vorgaben im Schulgesetz für den Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Dyskalkulie. Dennoch können Schulen im Rahmen ihrer pädagogischen Möglichkeiten unterstützende Maßnahmen anbieten:
Dazu gehören zum Beispiel:
- Der Einsatz von anschaulichem Lernmaterial wie Dienes-Material
- Verlängerte Bearbeitungszeiten für Aufgaben
- Zusätzliche Rechenblätter zur Vertiefung
- Die Nutzung von Einmaleins-Tabellen als Hilfsmittel
Solche Anpassungen können betroffenen Kindern helfen, mathematische Grundlagen besser zu verstehen und ihr Selbstvertrauen im Umgang mit Zahlen zu stärken.
Die Praxisbeispiele zeigen, dass Nachteilsausgleich und Notenschutz individuelle Anpassungen erfordern, um den Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Schule, Eltern und Lerntherapeuten ist entscheidend, um die bestmögliche Unterstützung zu gewährleisten.
Regelungen in den anderen Bundesländern/Österreich
Hier findest du weitere Beiträge zu den Regelungen des Nachteilsausgleichs aus verschiedenen Bundesländern, geschrieben von Lerntherapeuten aus dem Lerntherapeuten-Netzwerk.
Baden-Württemberg
Der Nachteilsausgleich bei Legasthenie und Dyskalkulie unter der Lupe – Susanne Seyfried
Brandenburg
Nachteilsausgleich für Kinder mit LRS oder Rechenschwäche in Brandenburg – Tanja Schikofsky
Niedersachsen
Nachteilsausgleich bei LRS und Rechenschwäche – Niedersachsen Sabine Landua
Hessen
Nachteilsausgleich bei einer LRS und Rechenschwäche in Hessen – Pia Meyer
Sachsen
Nachteilsausgleich bei Teilleistungsstörungen in Sachsen – eine faire Sache? – Bettina Häntsch
Österreich
Nachteilsausgleich und Notenschutz in Österreich – Ute Temel
Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung: Der schulische Umgang mit Lese- / Rechtschreibschwierigkeiten
Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung: Der schulische Umgang mit Rechenschwierigkeiten
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Quellen und weiterführende Informationen
Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Individuelle Handreichung Nachteilsausgleich Notenschutz, 2024, zuletzt aufgerufen am 6.2.2025
Bayrische Schulordnung: BaySchO: Teil 4 Individuelle Unterstützung, Nachteilsausgleich und Notenschutz (§§ 31–36) – Bürgerservice, zuletzt aufgerufen am 4.2.2025
BayEUG: Art. 52 Nachweise des Leistungsstands, Bewertung der Leistungen, Zeugnisse – Bürgerservice
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